Sünde 8 - Vorurteil

Es ist wahrlich keine Tugend, sich immer der Meinung anderer anzupassen. Vielmehr begehen wir eine schlimme Sünde, wenn wir die eigenen Gefühle verleugnen und Bedürfnisse unterdrücken, nur weil etwas »sich nicht gehört« – zum Beispiel Sex im Alter. Eine Todsünde wird daraus, wenn wir die Vorurteile verinnerlichen und selbst daran glauben.

»Alle Klischees musste ich mit ihr durchackern«

Köln: Martin (45) erobert Inge (57) trotz ihrer Widerstände.

Es begann an meinem Geburtstag. Ich hatte eigentlich keine Lust, den Tag zu feiern. Aber Freunde hatten alles für mich arrangiert. Und so fand dann doch eine Party in meiner Wohnung statt. Die meisten Gäste waren jünger als ich, zwischen 30 und 40, und ich mittendrin, 45 Jahre alt und ziemlich depressiv. Ich hatte gerade, nach fünf Jahren unerträglicher Ehe, meine Scheidung hinter mir. Es war die Scheidung von einer Frau, in die ich mal schrecklich verliebt gewesen war, doch in meiner Verliebtheit hatte ich ihren grenzenlosen Egoismus lange Zeit nicht gesehen. Sie wollte eigentlich immer nur eines: Spaß, Spaß, Spaß, ohne Rücksicht auf meine Gefühle, auf meine Stimmung, auf meine finanzielle Situation. Vielleicht lag es daran, dass sie deutlich jünger war als ich. Vielleicht war es aber auch einfach ihr Charakter. Jedenfalls hat sie mich total ausgebeutet, und so hätte ich am Scheidungstag wohl froh sein müssen, dass der Albtraum nun endlich vorbei war. Aber dem war überhaupt nicht so. Das Ganze hatte mich richtig gebeutelt.

Es darf auf keinen Fall etwas mit Sex zu tun haben

Unter den Geburtstagsgästen war eine Frau, die ich ungefähr auf meinen Jahrgang schätzte. Sie war gepflegt, elegant, und sah doch jung und dynamisch aus. Und weil sie da war, fing eine neue Phase in meinem Leben an. Und schließlich auch in ihrem Leben. Aber begonnen hat eigentlich alles so falsch wie nur möglich.

Ich unterhielt mich mit ihr, doch nach einer Weile meinte sie, ich solle mich besser um eine der Jungen kümmern und meine Zeit nicht mit einer alten Frau verschwenden. Ich fand das idiotisch und sagte, sie sei doch nicht alt, sondern eine attraktive, tolle Frau und dass ich lieber mit ihr sprechen wolle. Und von den ganz jungen Frauen hätte ich sowieso genug. Ich erzählte ihr von meiner Ehe. Später stellte sich dann heraus, dass diese Frau, Inge, eben nicht in meinem Alter war, sondern 57, was ich ihr absolut nicht glauben mochte. Sie war seit sieben Jahren Witwe und litt noch immer unter dem Tod ihres Mannes. Ein einziges Mal hatte sie danach eine kurze Beziehung mit einem anderen Mann gehabt, was aber zum Streit mit ihrer damals bald 30-jährigen Tochter geführt hatte, die voller Empörung meinte, ihr Papa würde dadurch betrogen und dass die Mutter das doch nicht machen könne und überhaupt, wozu brauche die Mutter denn jetzt noch einen neuen Mann. Das war die Geschichte. Inge kam dann sehr schnell damit heraus, dass sie sich zwar mit einem Mann befreunden könnte, aber dass das auf keinen Fall etwas mit Sex zu tun haben dürfe. Da sei sie noch immer völlig an ihren verstorbenen Ehemann gewöhnt. Außerdem dachte sie, dass sie mittlerweile nicht mehr anziehend genug sei. Davon ließ sie sich auch nicht abbringen. Das Wichtigste für sie war aber – ich konnte das ganz deutlich spüren –, die Beziehung zu ihrer Tochter nicht zu gefährden. Und die Tochter biss jeden Mann weg, der sich auch nur in die Nähe ihrer Mutter wagte.

Wir verstanden uns an diesem Abend aber so gut, dass wir beschlossen, eine Art Freundschaft zu führen, ab und zu miteinander essen zu gehen und gemeinsam etwas zu unternehmen. Sie war ein Typ wie Senta Berger, und wenn ich sie darauf ansprach, dann musste sie lachen. Die sei doch Schauspielerin und hätte ein ganz anderes Leben und auch eine ganz andere Einstellung zu Liebe und Sexualität. Und schon betonte Inge wieder, dass sie keinerlei Interesse an sexuellen Erlebnissen hätte, dass ich das akzeptieren und respektieren müsse, nur dann könnten wir Freunde sein.

Es vergingen drei Monate, in denen ich mich rasend verliebte

Immer wieder versuchte Inge, mich mit Rechenbeispielen zu überzeugen. Wenn ich ihr vorschlug, doch unsere Freundschaft vielleicht zu erweitern, dann rechnete sie mir vor: »Wenn du 50 wirst, bin ich schon über 60. Wenn du 55 wirst, dann bin ich schon 67, spätestens dann ist doch sowieso alles aus.« Und um ihre Aussagen zu bekräftigen, sagte sie mir, dass ihre Freundinnen bei diesem Thema derselben Meinung seien: Auf der einen Seite wollten sie zwar alle keinen alten Mann. Aber einen jungen durfte man sich auch nicht nehmen, weil der einen nur enttäuschen und sich schnell wieder an ein junges Mädchen heranmachen würde. Alle Klischees, die es zu dem Thema gab, musste ich mit ihr durchackern.

Trotzdem entwickelten wir eine schöne Beziehung, wenngleich ohne Sex. Vor allem hatten wir tolle Gespräche miteinander. Wir gingen auch zusammen tanzen. Aber wenn ich probierte, ein bisschen mehr Körperkontakt herzustellen, stieß sie mich augenblicklich weg. Auch wenn ich beim Essen zärtlich über ihren Arm strich, klappte sie zu wie eine Auster. In solchen Situationen sagte sie Sätze wie: »Ich habe Angst, mich in dich zu verlieben, das führt nur zu schrecklichen Enttäuschungen, ich kann das alles nicht.« Irgendwann bei einem Gespräch über körperliche Fragen fiel der klassische Satz, sie würde in keinem Fall mehr zu einem Frauenarzt gehen, sodnern nur zu einer Ärztin, weil sie sich vor keinem Mann mehr nackt zeigen möchte.

So vergingen drei Monate, in denen ich mich rasend in Inge verliebte. Aber ich durfte das nicht so offen zeigen, sonst wäre sie mir entglitten. Ich fühlte mich bei ihr zu Hause, sie konnte so wunderbar zuhören und zeigte auch viel Verständnis für meine Enttäuschung über meine Ehe. Es musste einfach etwas geschehen, und da kam mir schließlich eine Idee. Ich lud sie über das Wochenende in ein kleines Landhotel mit großem Wellness-Bereich ein. Das war ein Schock für sie – mit mir zusammen in einem Hotel, was konnte da nicht alles geschehen. Ich bot ihr an, zwei Einzelzimmer zu nehmen. Das fand sie aber auch wieder übertrieben, weil sie schließlich doch irgendwie meine Freundin war. Außerdem koste das viel zu viel Geld. So war Inge auch. Nach einigem Zögern sagte sie schließlich zu.

Am ersten Nachmittag im Hotel schlug ich ihr vor, gemeinsam in die Sauna zu gehen. Wieder schreckte sie zurück. Ich bot ihr an, wir könnten uns ja beide in den jeweiligen Kabinen entkleiden und uns dann eingehüllt in ein Handtuch in der Sauna treffen. Ich musste ihr versprechen, nicht auf ihren Körper zu starren, der nun mal nicht mehr so sei wie bei einem jungen Mädchen. Ich gestand ihr, dass ich auch keinen Waschbrettbauch mehr hätte wie ein 20-Jähriger, aber dafür einige kleine Fettpölsterchen, über die sie ihrerseits bitte auch hinwegsehen müsse. Und so fingen wir nach drei Monaten behutsam an, ein bisschen befreiter miteinander umzugehen.

Und irgendwann fielen die Handtücher

Wir trafen uns also mit unseren Handtüchern in der Sauna. Als wir da so voreinander standen, schmiegte sie sich an mich. Und dann gab sie mir den ersten Kuss, der mehr war als die bisherigen Freundschaftsküsschen auf die Wange. Ich erinnere mich noch genau an alle Details, obwohl es nun zehn Jahre her ist. Sie zitterte am ganzen Leib wie ein junges Mädchen beim ersten Mal. Und irgendwann, nach einigen Minuten, fielen die Handtücher. Wir standen nackt zusammen und fühlten unsere Körper. Es war ein großer Moment, in dem eine Liebesgeschichte anfing aufzublühen. Da war in uns beiden so viel aufgestaute Sehnsucht nach Zärtlichkeit und Hingabe. Das zeigte sich später auch im Bett. Und immer wieder sagte ich ihr, wir müssten ja keinen Striptease zusammen machen, darum gehe es nicht. »Es geht um Zärtlichkeit und darum, zusammen zu sein.« Sie verstand mich, und wir waren zum ersten Mal ganz beieinander. Es war wunderbar, die Leidenschaft flutete ruhig und ohne heftige Bewegungen, wir verströmten uns ineinander. Es war ein weiterer Moment tiefer Liebe, als sie mir danach sagte: »Du musst jetzt schlafen, das wird dir guttun. Und es stört dich doch nicht, wenn ich dir dabei zuschaue?« … Nein, das störte mich überhaupt nicht.

Ich finde, dass an diesem Tag etwas ganz Besonderes geschehen ist. Ich fühlte mich zum ersten Mal seit vielen Jahren wieder zu Hause und das hieß – zu Hause, bei Inge. Inzwischen bin ich 55, sie etwa 67, und wieder fängt sie an, darüber nachzudenken, wie es ist, wenn sie 70 wird. Und ich sage ihr wieder, sie solle doch das Jonglieren mit den Zahlen lassen. »Das Alter spielt keine Rolle. Wir lieben uns, wir gehören zusammen, wir sind ein Paar, und das wollen wir bleiben, solange es uns beiden miteinander gut geht.«

Oswalt Kolle ganz persönlich

»Man muss erst loslassen, bevor sich eine neue Chance auftut«

Niemand ist zu alt für die Liebe, niemand ist zu alt, um sich zu verlieben. Das ist meine Überzeugung, das ist auch meine Erfahrung. Aber in Gesprächen mit vielen älteren Menschen – Frauen wie Männern – höre ich oft Resignation. Nach dem Tod des Partners oder nach einer schmerzhaften Trennung kommen im höheren Lebensalter dann die grauen Gedanken: Ich habe doch sowieso keine Chance mehr. Ich mache mich doch nur lächerlich. Was sollen meine Kinder sagen, wenn ich mich noch einmal verliebe? Aber dennoch spüre ich im Gespräch mit älteren Menschen eine große Sehnsucht nach einer neuen Beziehung. Häufig sind sie aber auch noch blockiert durch die Idee, dem verstorbenen Partner untreu zu werden. Wer sich davon nicht befreien kann, wird niemals für eine neue Liebe offen sein. Dieses »Sichöffnen« ist eine Grundvoraussetzung, um das Abenteuer einer neuen Partnerschaft einzugehen. Man muss erst loslassen, bevor sich die Chance für eine neue Partnerschaft auftut.

Ich weiß, wovon ich rede: All diese Fragen haben auch meine neue Liebe und mich am Anfang beschäftigt. Ich war 76 und meine neue Partnerin 64, als wir uns kennenlernten. Doch ein Problem hatten wir nicht, das der sexuellen Lustlosigkeit. Wir waren und sind immer noch heißblütig und leidenschaftlich an Erotik und Sexualität interessiert. Ich möchte Ihnen das nur sagen, damit Sie sich nicht einreden lassen, die Lust auf Sexualität, Intimität, Leidenschaft und Hingabe ließe im Alter nach.

Es gibt zwei große Ängste gegenüber der Sexualität nach dem 50. Lebensjahr. Bei Frauen hauptsächlich die Angst, dass sie körperlich nicht mehr so attraktiv sein könnten für einen Mann, schon gar nicht für einen jüngeren. Die große Angst bei Männern ist, dass sie nicht mehr so potent sein könnten, wie sie es gerne sein wollen. Hier spiegelt sich auch die Einstellung der Jüngeren gegenüber der Sexualität von Älteren wieder. Es gab eine Umfrage unter 20-Jährigen, und die Mehrheit von ihnen war der Auffassung, dass sexuelle Aktivität und selbst der Wunsch danach prinzipiell mit 45 Jahren enden. Solche Ideen haben natürlich Einfluss auf die älteren Männer und Frauen, wenn sie immer wieder hören und lesen, dass Sexualität nur etwas für die Jungen sei. Man muss deshalb den Älteren Mut machen, sexuelle Erlebnisse zu genießen, wenn sie das möchten. Damit soll kein Druck ausgeübt werden, aber wir Älteren sollten lernen, die eigene Position, Sehnsüchte und Wünsche zu formulieren und auch zu realisieren.

Ich will an dieser Stelle nichts verherrlichen. Sexualität ist natürlich durch das körperlich Machbare beeinflusst. Manche Stellungen klappen nicht mehr so recht. Auch dauert es im Alter manchmal länger, bis sich nach einem Orgasmus wieder so richtig Lust auf eine Wiederholung einstellt. Aber dafür haben Ältere das Geschick und die Erfahrung, jeden einzelnen sexuellen Akt durch Ausdauer und Fantasie zu etwas Besonderem zu machen.

Für Paare, die sich ihre Lust und Sexualität erhalten wollen, ist es außerordentlich wichtig, dass sie über ihre Wünsche und Ängste so offen und ehrlich wie möglich kommunizieren, auch wenn es ihnen schwer fällt. Und wenn das Reden so gar nicht vonstatten gehen mag, dann gibt es immer auch den nonverbalen Weg der Verständigung über Gesten und Zärtlichkeiten.

Noch wichtiger ist der Rat, die Sexualität nicht einschlafen zu lassen. Auch hier gilt: Wer rastet, der rostet. Oder anders ausgedrückt: Use it or lose it – gebrauche es oder verliere es. Dies gilt für Männer und Frauen gleichermaßen. Denn bei beiden Geschlechtern ist die Sexualität mit bestimmten körperlichen Funktionen verbunden. Beim Mann muss sich das Schwellkörpergewebe mit Blut füllen, damit es zu einer Erektion kommt. Wird das nicht trainiert, baut sich das Schwellkörpergewebe um, und es geht gar nichts mehr. Bei Frauen ist es ähnlich. Beim Sexualakt schwellen die Schleimhäute der Vagina an, dadurch intensiviert sich das Empfinden. Ohne entsprechendes Training kollabiert die Vagina, das heißt, sie wird eng und undurchdringlich. Das soll nicht bedeuten, Sexualität sei Leistungsport. Nein, sie ist ein freiwilliges lustvolles Spiel, aber wenn Sie Spaß daran haben, müssen Sie die Funktionsfähigkeit der Organe trainieren.

Aber auch wenn die innere Einstellung stimmt, wenn beide Partner wirklich Sexualität miteinander genießen wollen, kann es zu Störungen kommen, weil der Körper im Alter und bei bestimmten Krankheiten wie Diabetes oder Bluthochdruck anders reagiert als beim jungen und gesunden Menschen. Hier kann und muss der Arzt helfen. Aber Sie müssen den Mut haben, Ihre sexuellen Probleme mit ihm zu besprechen. Frauen nach der Menopause sprechen mit ihrem Arzt über alles, nur nicht über die Lustgefühle und die Schwierigkeiten beim Verkehr. Verwunderlich ist das nicht in einer Gesellschaft, die ältere Menschen ausgrenzt und ihnen das Gefühl gibt: Wenn du Falten hast, wenn du müde bist, wenn du weniger leistest, dann bist du auch nichts mehr wert. Schnell kommt dann die eigene Schlussfolgerung: Ich bin als individueller Partner nicht mehr attraktiv. Ich möchte Sie an dieser Stelle aufrütteln, dass Sie das nicht mit sich machen lassen. Lassen Sie es nicht so weit kommen, dass andere darüber bestimmen, wie begehrenswert Sie sich fühlen. Denn Attraktivität liegt nicht an einer faltenlosen jungen Haut, sondern an Ihrem Potenzial an Zärtlichkeit und an der Kenntnis Ihrer eigenen sexuellen Wünsche und denen Ihres Partners.

Wie sieht der Sex von Senioren aus, und was sagt die Statistik?

»Mit 66 Jahren, da fängt das Leben an«, sang einst Udo Jürgens. Und so langsam dringt in unser Bewusstsein, dass das auch für die Sexualität gilt. Herrschte früher das Vorurteil, das Alter sei asexuell – die Sexualforscher William H. Masters und Virginia E. Johnson zum Beispiel interessierten sich nur für die Koitusfrequenz der bis zu 60-Jährigen – so kann man die letzten 30 Jahre als die Jahrzehnte des »Tabubruchs« bezeichnen. Dieser begann mit dem US-amerikanischen Starr-Weiner-Report über »Liebe und Sexualität in reiferen Jahren« aus dem Jahr 1981: Demnach schlafen rund 20 Prozent der älteren Paare ab 60 mindestens einmal pro Woche miteinander. 44 Prozent der Männer und 47 Prozent der Frauen befriedigen sich darüber hinaus selbst. Zum ersten Mal räumte jemand systematisch mit dem Ammenmärchen auf, dass die Lust mit dem Alter schwinde. Auch bei Inge in unserer Geschichte merken wir recht bald, dass ihre Erklärungen, sie habe keinerlei Interesse an sexuellen Erlebnissen, zu stereotyp vortragen werden, um glaubhaft zu sein. Wie sich zeigte, hatte Martin einen guten Instinkt, als er hartnäckig versuchte, Inges Vorurteile langsam aufzuweichen.

Der Wandel in der Sexualität wird als Gewinn erlebt

So nach und nach griffen die Wissenschaft und die Presse das Thema auf. Aber erst im Jahr 2008 wurde in Deutschland dazu wieder eine Langzeiterhebung veröffentlicht, nämlich die »50+ Studie« des Osnabrücker Sozialwissenschaftlers Dieter Otten. Demnach haben rund 80 Prozent der Männer und gut 60 Prozent der Frauen zwischen 50 und 70 Jahren regelmäßigen und durchaus variantenreichen Sex. Diese höhere Zahl als im Starr-Weiner-Report kommt dadurch zustande, dass jetzt nicht nur allein die Koitusfrequenz gemessen wurde, sondern das gesamte sexuelle Spektrum. Der Heidelberger Altersforscher Andreas Kruse meint dazu: Sexualität und Erotik unterliegen im höheren Lebensalter einem Gestaltwandel, der von den meisten Frauen und Männern nicht als Verlust, sondern als ein Gewinn erlebt wird. Die Sexualität ist nicht mehr in dem Maße körperlich akzentuiert, wie dies in früheren Lebensjahren der Fall gewesen ist, sondern sie ist sehr viel stärker in den emotionalen Kontext der Beziehung eingebettet. Entsprechend gewinnt die Zärtlichkeit zunehmend an Bedeutung. Sie wird im Alter sehr viel häufiger als in früheren Lebensjahren als wichtige, wenn nicht sogar als zentrale Ausdrucksform von Sexualität begriffen. Wenn Zärtlichkeit ausgedrückt und gelebt werden kann, dann ist damit eine wichtige Voraussetzung für die Zufriedenheit mit der eigenen Sexualität gegeben. Dies ergaben Kruses Befragungen von alten und hochbetagten Menschen. Auch die Tatsache, dass die Zeitspanne bis zum Eintritt der vollen Erregung bei älteren Frauen und Männern deutlich länger ist als bei jüngeren, wird vielfach als potenzieller Gewinn und nicht als ein Verlust erlebt. Als Gewinn deshalb, weil damit auch deutlich mehr Möglichkeiten zum zärtlichen Austausch gegeben sind. Das heißt nun nicht, dass bei Älteren die Zärtlichkeit an die Stelle der Sexualität tritt. Aber es bedeutet, dass durch die langsamere Gangart die Zärtlichkeit wichtiger wird. Dies beschrieb auch Martin in unserer Geschichte.

Trotz zahlreicher Veröffentlichungen zu dem Thema nahm die Allgemeinheit die Tatsache, dass Ältere tatsächlich auch Sex haben, aber erst so richtig mit dem Film »Wolke 9« aus dem Jahr 2008 wahr. Darin wurde hierzulande erstmals ein altes Paar bei lustvollen körperlichen Aktionen im Bett gezeigt und diese Tatsache viel diskutiert. Und hier noch ein paar weitere Beispiele für sexuelle Wünsche im Alter aus Film und Fernsehen: Kommissarin Bella Block knutscht immer wieder mit ihrem auch schon älteren Freund herum, mit Händchenhalten ist es hier nicht getan. Wer Soaps mag, kommt diesbezüglich auch auf seine Kosten, in der Dauerserie »Marienhof« suchte eine der älteren Protagonistinnen, nämlich Inge Busch, nach einem Partner, und auch hier war richtige sexuelle Leidenschaft am Werke. Und im internationalen Film gibt es das ebenfalls, etwa in »Reach for Me« (2008), »Away from Her« (An ihrer Seite, 2006), »It’s Complicated« (Wenn Liebe so einfach wäre, 2009). Das frühere Vorurteil vom asexuellen Alter mag offenbar kein Drehbuchautor mehr bedienen.

Damit ist allerdings nicht gemeint, dass nun zwangsläufig jeder Mensch ab einem gewissen Alter Sex haben muss. Denn das Verlangen hängt natürlich immer von vielen verschiedenen Faktoren ab.

Liierte haben mehr Sex als Singles

Generell ist für sexuelle Aktivitäten im Alter die Tatsache wichtig, ob eine Beziehung besteht oder nicht. Dies beschreibt der Schweizer Psychologe Thomas Bucher in seinem Buch »Altern und Gesundheit«. Er hat eine Fragebogenstudie durchgeführt, an der 641 Männer und 857 Frauen im Alter zwischen 45 und 91 teilnahmen: Liierte Personen haben mehr Sex als Singles, das ist schon in jüngeren Jahren so und verstärkt sich im Alter. Bei Männern über 65 haben knapp 40 Prozent von denen, die keinen festen Partner haben, regelmäßig Geschlechtsverkehr, aber fast 70 Prozent der Männer, die in einer Beziehung leben. Bei den Frauen ist dieser Unterschied noch gravierender: Nur etwa 5 Prozent der Frauen über 65 ohne Partner haben regelmäßigen Sex, aber 70 Prozent der Frauen mit einem Partner.

Allerdings ist die Partnerschaft kein Garant für gelebte Sexualität. Bucher stellte nämlich auch fest: Bis zum 60. Lebensjahr verringert eher eine lange Partnerschaftsdauer die sexuelle Aktivität als das eigentliche Alter. Ein wesentlicher Grund ist oft eine emotional zerrüttete Beziehung, die natürlich auch noch in späteren Jahren zutage treten kann. Eine 77-jährige Frau, die von der Psychologin Dr. Kirsten von Sydow interviewt wurde, sagte zum Beispiel: »Wenn da nicht so viel zwischen uns gewesen wäre, das abstoßend war, ich wäre sexbereit. Wenn ich den richtigen Partner hätte, der nicht so egoistisch wär, dann wollt ich selbst die (sexuellen) Anlagen noch heben können. Aber nicht so. Ein Mensch kann nicht immer geben, geben, geben, und der andere nehmen, nehmen, nehmen.« Sie war von ihrem Partner enttäuscht und wollte deswegen auch im Bett nichts mehr von ihm wissen.

Mit dem Älterwerden brauchen wir stärkere, länger andauernde Reize

Wenn man über Sex im Alter nachdenkt, sind auch die körperlichen Veränderungen zu berücksichtigen. Bei Männern lässt mit der Zeit die Potenz nach, weil schleichend geringere Mengen des Männlichkeitshormons Testosteron gebildet werden. Ab dem 65. Lebensjahr kann dies zu spürbaren Veränderungen führen. So dauert es länger, bis eine Erektion zustande kommt, sie ist weniger hart, und manchmal fehlt sie ganz. Auch wird eine stärkere Stimulation notwendig. Außerdem nimmt die Spermienproduktion ab. Und die häufig auftretende gutartige Vergrößerung der Prostata kann darüber hinaus Probleme beim Ejakulieren mit sich bringen.

Auch bei der Frau stellen sich Veränderungen ein. In den Wechseljahren, die etwa mit dem 50. Lebensjahr beginnen, verringert sich die Östrogenproduktion um 90 Prozent. Dieser Vorgang wird bei einem guten Drittel der Frauen von Beschwerden begleitet, zu der auch die Trockenheit der Scheide gehört. Zehn Jahre später schrumpfen dann durch den dauerhaft tiefen Östrogenspiegel die weiblichen Organe, wie Eierstöcke und Gebärmutter, aber auch die Scheide. Für den Sex ist vor allem relevant, dass die Vaginalschleimhäute dünner und trockener werden. Gynäkologen weisen allerdings darauf hin, dass mit einer dort aufgetragenen östrogenhaltigen Creme die Veränderungen an der Scheide aufgefangen werden können. Außerdem sind sie nicht sicher, ob Feuchtigkeitsmangel beim Geschlechtsverkehr nicht vor allem andere Ursachen hat, so zum Beispiel eine mangelnde Stimulation. Denn mit dem Älterwerden brauchen Frauen genau wie auch Männer stärkere und länger andauernde Reize. Wie der Psychologe Bucher hervorhebt, kann der Feuchtigkeitsmangel in der Scheide zudem auf fehlende partnerschaftliche Nähe zurückgehen.

Auch Medikamente wie Betablocker gegen Bluthochdruck, Herz-Kreislauf-Medikamente, Beruhigungsmittel, Psychopharmaka, Entwässerungsmittel, Kortison, Mittel zur Magenentsäuerung und Antiandrogene können beim Mann die Erektionsstärke und bei der Frau die Feuchtigkeitsbildung in der Vagina stören. Es ist also nicht immer nur das Alter Ursache von sexuellen Störungen. Auch fast alle häufigen Krankheiten haben einen negativen Einfluss auf sexuelle Aktivitäten – etwa Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Bluthochdruck, Diabetes, Nieren- und Leberschädigungen, Schilddrüsenerkrankungen, Depression oder Gelenkbeschwerden, um nur einige zu nennen.

Frauen haben im Alter weniger Sex als Männer – wahrscheinlich gezwungenermaßen

Vor allem beim Mann stellen sich aufgrund dieser Einflüsse und entsprechender Erfahrungen Versagensängste ein. In der Konsequenz lassen es viele Männer dann erst gar nicht mehr darauf ankommen und leben lieber enthaltsam. Das hat das Forscherehepaar Masters und Johnson herausgefunden: »Beim Auftreten vereinzelter Impotenzerlebnisse beenden die meisten Männer die koitale Aktivität und verzichten auf weitere Versuche, den Geschlechtsverkehr zu vollziehen.« Entscheidend sind hier Leistungsansprüche, die Männer schon seit frühester Jugend mit Sexualität verknüpfen.

Bei Frauen hingegen verändert sich die Bedeutung der Sexualität trotz – oder wegen? – der körperlichen Veränderungen auch zum Positiven. Denn mit dem Ende der Reproduktionsfähigkeit fällt die permanente Sorge um eine ungewollte Schwangerschaft weg, und es kann sich eine unbeschwerte Sexualität entwickeln. Viele Frauen berichten auch, dass sie erst ab etwa 40 entdeckten, welche lustvollen Möglichkeiten in ihrem Körper stecken.

Trotzdem aber haben Frauen im Alter weniger Sex als Männer. Wahrscheinlich gezwungenermaßen. Denn es spielt auch noch eine demografische Besonderheit in ihr Sexleben mit hinein: Frauen haben eine höhere Lebenserwartung als Männer und sind zudem im Bundesdurchschnitt mit einem vier Jahre älteren Mann verheiratet. Das führt dazu, dass in der Gruppe der über 60-Jährigen drei Viertel der Männer verheiratet und drei Viertel der Frauen alleinstehend sind. Also ist Partnerschaft die normale Situation für ältere Männer, aber nicht unbedingt für ältere Frauen. Und wenn sich die Frauen im späten Alter aufmachen, erneut einen Partner zu suchen, dann kommen rein statistisch betrachtet ungefähr vier suchende Frauen auf einen potenziell zur Verfügung stehenden Mann.

Aus all diesen Gründen ist es absolut richtig, was uns Madonna, Vivienne Westwood, Drew Barrymore und genauso auch Inge aus unserer Geschichte vorleben: Sie haben sich einen deutlich jüngeren Partner gesucht. Auch aus einem anderen Aspekt heraus ist ein solcher Schritt nicht falsch: Denn im Allgemeinen gilt, dass ein Mann in jungen Jahren häufiger Sex wünscht als in späteren Jahren. Während für den Mann die Bedeutung von Sexualität auf einem hohen Niveau beginnt und dann abfällt, startet sie für eine Frau auf einem niedrigen Level, um dann anzusteigen. Rein rechnerisch kreuzen sich die beiden Verlaufslinien bei einer Altersmarke zwischen 35 und 40. Nur in diesem Alter haben Frauen und Männer etwa gleich viel Lust auf Sex.

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Wie Sie die Vorzüge des reiferen Alters beim Sex nutzen

Von älteren Frauen hört man oft die Klage, dass Männer sie nicht mehr anschauen. Das liegt zum Teil auch daran, dass sich viele ältere Frauen nicht mehr so pflegen, wie sie es früher getan haben, dass sie zu wenig Wert auf ihre äußere Erscheinung legen. Und auch so mancher Mann lässt sich mit zunehmendem Alter gehen. Aber das ist eigentlich respektlos und arrogant gegenüber einem tatsächlichen oder potenziellen Partner. Die Nachlässigkeit könnte darauf hinweisen, dass ältere Menschen dem Äußeren nicht mehr so viel Wert beimessen wie jüngere und sagen wollen: »Wer etwas von mir will, soll meine inneren Werte erkennen.« Aber eine andere Person muss erst einmal auf Sie aufmerksam werden und Lust bekommen, in Ihnen einen inneren Schatz zu suchen. Ein gepflegtes Äußeres ist die Eingangspforte zu Ihren inneren Werten. Verknüpft mit auffordernden Blicken, einladenden Gesten und interessiertem Eingehen auf den anderen ergibt sich daraus dann das ganz normale Flirtprogramm – auch in höherem Alter.

Wenn Sie in fortgeschrittenem Alter sind, sollten Sie – egal ob Frau oder Mann – dabei nicht immer daran denken, was Sie nicht mehr haben, etwa die jugendliche Fitness oder die straffe Haut. Konzentrieren Sie sich vielmehr darauf, was Sie der Jugend voraushaben, nämlich Erfahrung mit Ihrer eigenen Sexualität. Ältere Menschen wissen meist genau, was sie wollen und was nicht. Und sie haben Erfahrung mit Partnern, wissen also auch gut, was der andere wollen könnte und was nicht. Übrigens: Der Vorteil in der Anfangsphase einer Beziehung ist, dass Verliebte eine rosarote Brille tragen, denn sie befinden sich in einer Hormonsituation, in der sie unbewusst Dinge ausblenden, die ihnen nicht gefallen, und sich auf das konzentrieren, was sie anmacht und begeistert. Sie ticken so und Ihr Partner ebenfalls. Insofern müssen Sie sich wegen körperlicher Unvollkommenheiten ohnehin keine Sorgen machen.

Wenn Freunde oder Familie Ihnen von Ihrem neuen Glück abraten, dann ist das für Sie verletzend, und nicht immer sind die Empfehlungen wohlmeinend. Versuchen Sie genau zu unterscheiden zwischen unbefriedigten Neidern und Neiderinnen einerseits und andererseits den Menschen, die tatsächlich besorgt um Sie sind. Auf die erste Gruppe gibt es eine wirksame Reaktion: Schüren Sie den Neid bis zum Überdruss, indem Sie immer wieder in grellen Farben Ihren Genuss beschreiben. Das wird die missgünstigen Menschen lehren, überhaupt nicht mehr auf das Thema einzugehen. Mit der zweiten Gruppe sollten Sie sich ernsthaft auseinandersetzen und deutlich machen, dass Sie Ihre Beziehung, so lange es geht, genießen wollen, dies aber nicht bedeutet, dass Sie sich von Ihren Lieben abwenden. Denken Sie zum Beispiel an den Film »Angst essen Seele auf« von Rainer Werner Fassbinder aus dem Jahr 1974. Da verliebt sich eine verwitwete ältere Putzfrau in einen etwa 20 Jahre jüngeren Marokkaner. Die beiden machen ihre Beziehung öffentlich und stehen zueinander. Durch ihre Konsequenz beginnt die anfängliche Feindseligkeit von außen zu weichen. Leider endet der Film dann weniger glücklich. Aber der erste Teil kann Ihnen zeigen, was auch dieses Buch sagen soll: »Es ist Ihr Leben, ganz allein Ihr Leben.« Niemand wird Sie später entschädigen, wenn Sie heute darauf verzichten, es auszukosten. Wagen Sie es, sich selbst zu vertrauen, und machen Sie Ihre eigenen Erfahrungen. Und lassen Sie sich nicht – auch wenn es oft schwer ist – von Vorurteilen leiten.